Im Schrank sitzen

Das Patenkind sitzt im Schrank und trauert.


Über das vorzeitig beendete Top-Model-Finale. Immer noch.

Schreie ich deswegen: „Kind, du Opfer der Medienwelt, ließ ein Buch!“ ?

Oder säusele ich in tröstendem Tanten-Ton: „Schatz, Pro7 wird sich sicher nicht einen werbeeinnahmenstarken Nachholtermin entgehen lassen.“ ?

Nein. Denn ich erinnere mich noch allzu gut an die präpubertäre Zeit, in der Fernsehen eine wichtige Rolle gespielt hat. Es war nämlich nicht nur verpönt, sondern verboten.

Versteckte Wohnzimmerschlüssel und gekappte Antennenkabel konnten uns jedoch nicht davon abhalten, immer dann zum Fernseher hechten, wenn die Eltern zu ihren wöchentlichen Italienisch- und Französischkursen ausgingen. Einer von uns fünf Kindern saß äußerst unbequem auf der Fensterbank, ein Auge auf die Garage gerichtet, eines auf die Schwarzwaldklinik. Die kam immer, wenn die Volkshochschule Französisch darbot. Und wir guckten alles, was lief, hatten wir sturmfrei und wurden fälschlicherweise bei den Hausaufgaben oder im Bett vermutet. Ein Colt für alle Fälle, Unter der Sonne Kaliforniens, Miss Marple, Night Rider, Three’s Company, Melrose Place, wenn wir Glück hatten auch Hitchcock- und Billy-Wilder-Filme und die grandiosen tschechischen Kinderserien wie Der fliegende Ferdinand und Die Märchenbraut, und eben besagte Schwarzwaldklinik.

Und wie groß war die Trauer, das Ende einer Folge zu verpassen, weil die faule Französischlehrerin den Kurs früher beendet hatte!

Man kann Menschen hassen, die man gar nicht kennt.

Den Fernseher abschalten, das Antennenkabel rausziehen, absperren und den Schlüssel wieder verstecken, gerade als Miss Marple die Hutnadel entdeckt hat, die einer Frau im Rücken steckt? Das kann man doch mit Kindern nicht machen!

Vielleicht war es damals der Reiz des Verbotenen, der Fernsehen noch so spannend machte. Heute bekommt man manchmal freiwillig das Bedürfnis, das Antennenkabel zu ziehen.

Ich bringe dem Patenkind ein Stück Kuchen in den Schrank und sage ihm, dass es sehr okay ist, ab und zu über das deutsche Fernsehprogramm zu trauern. Germanys Next Topmodell erwähne ich dabei nicht.

8 Kommentare

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8 Antworten zu “Im Schrank sitzen

  1. Der Bock in der zweiten Zeile tut der Glaubwürdigkeit des Artikels nicht wirklich gut. Oder sollte ich das anders sehen und er stützt diese sogar? 🙂

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  2. Liebe Dina,
    Sie haben ja keine Ahnung, wieviel besser diese eh schon genialen Geschichten sind, wenn man Ihre Familie, speziell die Eltern, ein bisschen kennt. Herzliche Gruesse bei Gelegenheit an den Bruder M.!

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  3. Nunja, ich ging mit M. in dieselbe Klasse am THG, und speziell in der Unterstufe hatten wir haeufiger – wie man heute sagt – play-dates 🙂
    Ist aber halt auch schon ueber 30 Jahre (uff) her.

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