Deep Shit Point oder die seltsame Dramaturgie des Lebens

Es ist tatsächlich passiert.
Ich sitze in einer Drehbuchbesprechung. Die Stimmung ist bestens. Produzent, Dramaturg, Senderredakteur, Producer und ich sitzen an dem ovalen Tisch im Produzentenbüro. Alle haben mein Drehbuch vor sich liegen, 140 Seiten ausgetüftelter Krimi. Und ich kann sagen: da ist mir was gelungen.
Dann bringt der Dramaturg die Katastrophe in Gang (im Film wäre das der erste „Turning Point“ bei Minute 22-24):
„Frau Golch, gefällt mir alles super, tolle Figuren, tolle Dialoge … nur kann ich partout nicht glauben, wer der Mörder ist.“
Ich bin enttäuscht. Die Berufsbezeichnung dieses Mannes unterstellt ihm, dass er was von Dramaturgie und Charakteren versteht. Warum sieht er dann nicht, dass in meinem Drehbuch auf Seite 130 die Puzzlestücke zusammenfallen, dass klar wird, warum mein Täter der Mörder war und dass das Drama in dieser Figurenkonstellation nur so seinen Lauf nehmen konnte?! All die subtilen Andeutungen über die letzten 85 Minuten Filmdrehbuch kulminieren hier in der erschreckenden Wahrheit (Fachsprache: „Deep Shit Point“).
Unwillig schlage ich vor, dass eine andere Figur aus meinem Charakterensemble der Täter sein könnte und erläutere, was sich dadurch alles ändern würde. Jetzt erhebt der Produzent Einspruch:
„Also das glaube ich nun wieder nicht!“
Gestresst opfere ich eine dritte Figur. Das ist ja hier wie auf dem Basar, wo unschuldigen Charakteren Morde in die Schuhe geschoben werden! Wissen meine Auftraggeber denn nicht, dass man mit Filmfiguren nicht Schach spielen kann? Ändert sich der Charakter, muss sich die Geschichte ändern!
Doch mein Opfer bringt nicht die gewünschte Ruhe. Jetzt legt der Sendermensch sein Veto ein.
„Auf keinen Fall. Dass diese Figur jemanden ermordet, das passt ja nun gar nicht.“
Mein nächster Vorschlag wird vom Producer abgebügelt. Der übernächste wieder vom Produzenten. Es geht noch ein paar Runden so, dann ist keiner mehr von meinen geliebten Figuren übrig (jede meiner Figur hat etwas von mir, egal ob im Drehbuch oder Roman – deshalb fühle ich mich wahrscheinlich so niedergeschmettert. Kein fiktiver Anteil meiner selbst hat die Sitzung überstanden).
Und da beugt sich der Dramaturg vor und fixiert mich über den ovalen Tisch hinweg, sein Gesicht so misstrauisch wie es nie vorher war.
„Frau Golch, wenn Sie hier nicht glaubhaft vermitteln können, wer der Täter war, müssen wir Sie mal nach Ihrem Alibi fragen!“
Alle starren mich an. War ich vor dieser Besprechung noch geschätzte Autorin, bin ich nun Hauptverdächtige. Ich komme mir vor wie Cary Grant in Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“.
Szenenwechsel.
Rasante Filmschnitte zeigen mich auf der Flucht, quer durch Deutschland. Mir auf den Fersen: Der Dramaturg, der Produzent, der Senderredakteur, der Producer, die Polizei, das BKA, das LKA, die CIA.
Mein psychische Gesamtverfassung verschlechtert sich dramatisch, nun komme ich mir vor wie eine Figur in einem Kafka-Roman. Ich kann das alles nicht verstehen, wie gemein ist das denn? Und intuitiv weiß ich: mein Leben wird nie wieder so sein wie bisher.

Schweißgebadet wache ich auf.

Wird Zeit, dass die Berlinale vorbeigeht und ich an meinem Roman weiterschreibe, dann gibt die mörderische Seite in mir hoffentlich nachts wieder Ruhe.

2 Kommentare

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2 Antworten zu “Deep Shit Point oder die seltsame Dramaturgie des Lebens

  1. jakobsblog

    Kommt mir sehr bekannt vor dieses Meinungskarussel!

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  2. Ich wollte mal einen Gegenbesuch abstatten.
    Hübsch hier;-)

    Hier bleibe ich.

    Toller Text. Ich merkte erst recht spät, dass es sich um einen Trraum handelt.

    Aberi ch habe ja auch keine Ahnung wie es beim Film zugeht… 😉

    Spannend!
    Ich bleibe dann mal hier.
    Und mein Filmrätsel, dass ich diese Woche so sträflich vernachlässigt habe, werde ich heute Abend spätestens morgen fortsetzen;-)

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